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Eine Leseprobe gefällig? Viel Spass!
Eine Leseprobe gefällig? Viel Spass!

Viel Spaß beim Lesen!
Euer

Lucas Timm

 

Heidelust und Vogelschießen

Trotz regennasser Straße und aufziehenden Gewitterwolken drückte Marc erneut fest auf das Gaspedal seines blauen VW-Käfers. Mit quietschenden Reifen preschte er bei gelbem Licht über die Ampel und drehte die Musik auf volle Lautstärke. Der süße Geruch der ofenfrischen Brötchen, die er bereits vor dem ersten Hahnenkrähen in der Tankstelle an der Hauptstraße gekauft hatte, verdrängte den Mief von Abgasen und Benzin.
Noch war es dunkel. Die wenigen Laternen, die dem Weg entlang der weiten Felder Nacht für Nacht ihren treuen Dienst erwiesen, flackerten bereits ungeduldig, um sich kurz darauf eine verdiente Auszeit zu nehmen.
Hinter den dichten Tannen leuchtete der Himmel in zartem rosa. Ein Bussard, der konzentriert nach Frühstücksbeute Ausschau hielt, kreiste trügerisch entspannt in der Nähe des Fischteichs, in dem Marc als Kind stundenlang nach Kaulquappen und Fröschen gefischt hatte. Außer ihm war kaum ein Mensch unterwegs. "Se a vida é" von den Pet Shop Boys lieferte den perfekten Soundtrack für den Beginn eines neues Tages. Also stimmte der Frühaufsteher munter mit ein, während ihn sein Wagen entlang zahlreicher Pferdeweiden und Bienenkörben Richtig Heimat führte " Se a vida é, I love you, feel the morning sun."
In Momenten wie diesem war sich der Frühaufsteher sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte: Ein Leben auf dem Land war genau das, was er brauchte, um glücklich zu sein.
Wie habe er nur glauben können, dies gerade in Berlin toppen zu können? Die Hektik, die vollen Straßen und dieses selbstherrliche "Ich bin ein Berliner"-Getue gingen ihm bereits nach wenigen Tagen auf die Nerven. Natürlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es speziell für schwule Männer in Großstädten viel mehr Möglichkeiten zur körperlichen Vereinigung gab, als er sich hätte erträumen können. In sechs Monaten konnte Marc die Anzahl der Männer, mit denen er Sex hatte, um über achthundert Prozent erhöhen, was bei drei erotischen Abenteuern vor seinem Umzug nicht gerade eine überraschende Entwicklung dokumentierte.
Marc war ein Landei und es war ihm schnell egal, ob die gepiercten und tätowierten Alternativen ihn mit einem befremdeten Blick musterten, wenn er mit der Sprache heraus rückte, dass er eigentlich in der Lüneburger Heide zu Hause sei. "Ja richtig. Das ist da, wo die Heidschnucken den Mähdreschern die Wege zum Feld versperren und Hühner tatsächlich noch frei herumlaufen dürfen."
Es gab sogar ein paar Typen, die es anmachte, ein Unschuldslamm aus der Einöde flach zu legen. Doch Marc sehnte sich nach etwas anderem: Nähe und Geborgenheit. Das Gefühl sich ein zuhause aufzubauen, welches die anonymen Menschenmassen und zugepflasterten Straßenzüge unbedeutend erscheinen ließ, doch in Tempelhof wollte dies einfach nicht gelingen, so sehr er es auch versuchte.
Ein Klick auf die Webcam vom Restaurant Heidekrug in Hanstedt machte ihm klar, dass es ein Fehler gewesen war, die blumige Landluft gegen den Mief von Welt einzutauschen. In der Szene mischten sich nachts teure Aftershaves mit dem stechenden Gestank von Poppers und Zigarettenqualm. Tagsüber war es der Angstschweiß psychisch in Mitleidenschaft gezogener Hausfrauen in überfüllten U-Bahnen oder Dönerbuden, die einem an jeder Ecke die Dünste ihrer Abluftanlage in die Nase pusteten. Hinzu kam die bittere Erkenntnis, trotz intensiver Anstrengungen auch beruflich nicht wirklich den großen Wurf in der Medienhauptstadt Berlin landen zu können.
Marc klappte andächtig den Deckel seines Notebooks zu, ging durch den engen Flur ins Schlafzimmer, schaute durch das schmale Fenster auf die laute Straße vor seinem Haus und griff nach seinem Plüschschwein Erika, das erwartungsvoll grinsend auf seinen Kopfkissen saß . Der junge Mann drückte seine Nase liebevoll in das abgegrabbelte Vieh! Er hatte einen Entschluss gefasst: "Erika! Das war?s. Mir reicht?s. Ich halte es hier keine Nacht mehr aus. Wir fahren zurück nach Hause! Der Alptraum ist vorbei."
Home is where the heart is - Marc wollte zurück zu seinen Freunden, der Natur, der Ruhe, die für ihn Heimat bedeutet. Er sehnte sich danach, mit Vogelzwitschern oder Hahnenkrähen aufgeweckt zu werden und begleitet von Grillenzirpen abends entspannt ins Bett zu sinken.
Marc Manske war ein Mann, der weiß, was er will. Genauer gesagt, war er gar kein richtiger Mann. Wenn es nach ihm ginge, dann durfte man den achtundzwanzigjährigen höchstens als "jungen Mann" bezeichnen, denn ein Mann war für den Journalisten nur ein Mensch, der in seinem Leben etwas erreicht hatte. Jemand, der von sich selbst sagen konnte: " Ich habe es zu etwas gebracht" Nicht, dass er sich auf einem großen Wurf ausruhen würde. Nein, er würde sich und der Welt wieder und wieder beweisen, dass er sein Leben meisterte und es zu etwas gebracht hatte. Doch leider rückte der angepeilte Erfolg auch an diesem Samstagmorgen noch einmal in weite Ferne.
Dabei war es doch eine großartige Story, die Marc von einem geheimen Informanten zugespielt wurde: Deutschlands Erfolgsregisseur Sigmar Mohlensachser habe die Crème de la Crème der TV-Stars zusammengetrommelt, um ein Remake des 50er-Jahre Klassikers "Heideschulmeister Uwe Karsten" an Originalschauplätzen im schönsten Landstrich Deutschlands erneut auf die großen Leinwände zu bringen. Neben Heike Makatsch und Senta Berger fielen sogar Namen wie Sky Dumont und Veronika Ferres. Dieses wichtige Ereignis würde den ohnehin schon florierenden Tourismus in der Nordheide ein ganzes Stück weiter vorantreiben. Auch für ihn wäre dadurch ein großer Schritt auf der Karriereleiter möglich.
Dies sollte Marcs Durchbruch werden. Nach nunmehr elf Monaten, in denen der junge Mann missmutig über Vandalismus an Bienenkörben und ausgerissene Bullen berichtet hatte, von einem Dorffest zum nächsten hetzte und alte Frauen in Heidjertrachten beim Brotbacken ablichtete, war nun der Moment gekommen, seinen journalistischen Spürsinn und die dazugehörige Portion Können unter Beweis zu stellen.
Fünf Tage lang feilte der engagierte Redakteur an seiner ersten Titelstory, die er für die "Heide Rundschau" schreiben durfte, befragte Lokalpolitiker, Zeitzeugen und traf sich sogar mit einer Statistin, die im jungen Alter von sieben Jahren hautnah an den Dreharbeiten beteiligt gewesen war. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
"Die Neuverfilmung dieses Klassikers ist ein historischer Meilenstein, der den Zuschauern durch wundervolle Bilder und ausgefeilte Charaktere vermittelt, dass Idylle und Lebenslust nur einen Namen haben können: Lüneburger Heide! Der Heideschulmeister kann kommen! Wir freuen uns auf seine Heimkehr!" brachte die Kulturbeauftragte, Simone Strauch, das Ereignis gewohnt professionell und überzeugend auf den Punkt.
Endlich war mal wieder etwas los in diesem idyllischen Kaff. Einen Fall, wie den des sogenannten Heidemörders, der Ende der Achtziger deutschlandweit für Aufsehen gesorgt hatte, würde es sicherlich so schnell nicht wieder geben. Der "Spiegel" und die "TAZ" hätten sich damals die Finger nach weiteren Geschichten aus Insiderkreisen geleckt, doch konnte Marc Manske zur Tatzeit altersbedingt noch nicht einmal seinen eigenen Nachnamen buchstabieren.
Frischer Kaffeeduft zog durch die Küche, während der selbsternannte Star-Journalist den Frühstückstisch deckte.
Ungeduscht und nur mit einem flauschigen Morgenmantel bekleidet, schlenderte er durch den Vorgarten, um die druckfrische "Heide Rundschau" aus dem Briefkasten zu holen. Der junge Bote machte sich für gewöhnlich nicht die Mühe, das Anzeigenblatt an seinen richtigen Ort zu stecken. Auch an diesem Morgen klemmte die dicke Wochenendausgabe lieblos an der morschen Gartenpforte. Immer dieser Stress und Zeitdruck. Vielleicht traute sich der Teenager auch nur nicht, die Postbox anzufassen. Rost gemischt mit Vogelmist und Spinnenweben ließen die rote Oberfläche nur noch erahnen. Oder war es die Schräglage des halb geöffneten Briefkastens, die das Berühren zu einer Art Geschicklichkeitsspiel werden ließ? Fällt er oder fällt er nicht? Es war den Austrägern nicht zu verdenken, dass sie die Verantwortung für den historischen Metallkasten nicht übernehmen mochten. Der junge Redakteur konnte sich glücklich schätzen, dass Post und Wurfsendungen überhaupt bei ihm ankamen, da das nächste bewohnte Haus fast zwei Kilometer von seinem eigenen Grundstück entfernt lagen.
Wieder zurück am Küchentisch genehmigte Marc sich einen großen Schluck aus seiner Kuh-Tasse, klappte den Anzeiger ehrfürchtig auf und strich das vom Knicken gewellte Deckblatt geradezu liebevoll glatt.
Doch was war das? "Känguru Wicki zurück im Wildpark." Eine Schlagzeile über die Heimkehr des seit einigen Tagen vermissten Ausreißers, die unbedeutender nicht hätte sein können, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Wie konnte seine intrigante Kollegin Jutta es nur wieder schaffen, den brummigen Redaktionsleiter gegen die perfekt recherchierte Superstory aufzuhetzen und in letzter Sekunde alles umzuschmeißen? Mit hochrotem Kopf überflog der Gehörnte das Titelblatt und entdeckte immerhin eine kleine Ankündigung seines Artikels in der Zeitungsmitte.
Wutentbrannt wühlte sich der Journalist durch Unfallmeldungen und anderen Dorfquatsch, wie er die lokalen Nachrichten immer bezeichnete.
 

Einer blickt durch, Band 1

Prolog

"Was macht Ihr denn da?"
Erschrocken blickte ich auf und ließ von meinem Kindergartenfreund Patrick ab, der kichernd unter mir lag. Wir hatten unsere kurzen Hosen bis auf die Knie heruntergezogen und lagen nackt aufeinander.
Albern stöhnend bewegte ich meinen kleinen Körper auf und ab und erstarrte erst, als die entsetzte Stimme meiner Mutter anklagend unser neu entdecktes Spiel beendete.
 
Dieser Vorfall ist eigentlich die früheste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe. Damals waren wir vier Jahre alt.
Kurz vor dem Zwischenfall kuschelten Patrick und ich mit den kleinen Katzen von Familie Güstrow von nebenan. Irgendwann liefen die Vierbeiner entnervt davon. Von meiner Idee, Mann und Frau zu spielen, war mein Freund sofort begeistert, wie von allen Vorschlägen, die ich machte.
Wir hatten uns nichts weiter dabei gedacht. Es war nur ein Zeitvertreib von vielen.
An der Reaktion meiner Mutter bemerkte ich jedoch schnell, dass wir hier etwas getan hatten, das nicht sonderlich gut ankam. Wir fühlten uns ertappt und hatten ein schlechtes Gewissen, obwohl uns nicht einleuchtete, was eigentlich das Problem war. Jedenfalls haben wir in Zukunft wieder mit unseren Autos gespielt, Höhlen gebaut oder sind durch die umliegenden Straßen gezogen, um fremde Menschen zu beobachten.
Es war so, als hätte ich gewusst, dass sich mir in den nächsten Jahren noch viele Möglichkeiten bieten würden, andere Körper zu erforschen, ohne dass meine Eltern es bemerken würden.
Ich wurde in einer recht bürgerlichen Kleinstadt im Norden Niedersachsens geboren. Einem Ort, in dem die meisten Bewohner keinerlei Ahnung von Menschen haben, die anders sind.
Mein Interesse richtete sich von Kindesbeinen an auf genau diese Andersartigen.
Fantasie und Instinkt halfen mir schon immer dabei, mich mit auf den ersten Blick unauffälligen Details auseinanderzusetzen. Ich lasse mich auf Vieles ein, das andere vielleicht nicht bemerken oder nicht zu nutzen wissen. Es ist nur eine logische Schlussfolgerung, dass dadurch auch der eine oder andere Tritt ins Fettnäpfchen nicht ausbleibt.
Doch ich gehe meinen Weg so, wie ich ihn für richtig halte: Mit heimlichen Blicken nehme ich am Leben meiner Mitbürger teil – ob sie es nun wollen oder nicht.

Kapitel 1

Mein orangefarbenes Planschbecken, das meine Eltern mir als kleiner Junge schenkten, war mein bester Freund. Solange ich mich zurückerinnern kann, war ich eine begeisterte Wasserratte. Stundenlang konnte ich in unserer gemütlichen Badewanne sitzen und mit kleinen Plastikschiffchen spielen oder aufziehbare Spielzeugfrösche durch das Wasser schwimmen lassen. Besonders lustig fand ich es, aufzustehen und mir aus Schaum große Brüste oder Unterwäsche anzukleben. Sehr schnell waren mir stundenlange Waschfeste in der heimischen Wanne nicht mehr genug. Zu meinem Glück lernte ich bereits im Kindergarten, mich allein im Wasser fortzubewegen, ohne unterzugehen.
 
Obwohl mir in der Badeanstalt der lustige Schaum im Wasser fehlte, genoss ich besonders das Springen vom Einmeterbrett und das Tauchen nach Gummi-Ringen unterschiedlichster Größe. Am liebsten nahm ich sie mit dem Mund vom Boden des Beckens auf, weil ich mich so den lustigen Delphinen aus dem Heidepark näher fühlte. Die aufgeweckten Viecher hatten es gut. Sie konnten ihr ganzes Leben im kühlen Nass verbringen, ohne nach wenigen Stunden von genervten Kindergärtnerinnen in die Duschen gescheucht zu werden. Die wöchentlichen Schwimmstunden waren mir einfach zu kurz. Immerhin blieb mir tagsüber der angenehme Chlorgeruch auf der Haut erhalten. Wieder und wieder roch ich an meinen Fingern und wünschte mich zurück in den großen, blauen Pool.
 
Bereits mit sechs Jahren hatte ich sämtliche Schwimmtests bestanden, die man in meinem Alter absolvieren konnte. Stolz zeigte ich allen die blauweißen Abzeichen meiner bestandenen Prüfungen, die meine Oma mir auf meine blaue Badehose genäht hatte. Die kleinen Trophäen waren ein richtiger Hingucker, um die meine Freunde mich reihum beneideten. Während die meisten Kinder, mit denen ich meine Nachmittage im Hallenbad verbrachte, schnell über das zu kalte Wasser oder Langeweile klagten, konnte ich meist kein Ende finden. Es machte mir einfach viel zu viel Spaß, stundenlang im Wasser zu sein oder auf den beheizten Bänken am Beckenrand zu liegen und neugierig andere Leute zu beobachten.
 
Je älter ich wurde, desto intensiver wurden meine Blicke. Es dauerte nicht lange, bis mir auffiel, dass in Schwimmbädern auch außerhalb des eigentlichen Nassbereichs einiges zu erkunden war. Für gewöhnlich holte ich mir vor dem Baden in der Umkleidekabine einen runter, ging duschen, planschte mit Freunden, duschte wieder und wichste zum Abschluss erneut schnell und heimlich, bevor es entspannt nachhause ging. Irgendwann bemerkte ich die kleinen Löcher, die es in einigen Kabinen gab. Unbewusst wunderte ich mich schon in der Vergangenheit über die Vertiefungen in den Wänden, in denen wahrscheinlich einmal Dübel steckten, um Handtuchhalter, Sitzbänke oder Spiegel zu halten. Doch warum um Himmels willen sollte jemand gerade auf Lendenhöhe etwas anhängen wollen? Dies erschien mir doch relativ unpraktisch und bei genauerem Hinsehen auch völlig absurd. Ich bückte mich nach vorn, um mir das einmal genauer anzusehen. Zu meiner Überraschung bot sich direkte Sicht auf ein dickes, nacktes Hinterteil einer alten Frau. Erschreckt wich ich zurück. Obwohl man sich das eben Gesehene eigentlich lieber erspart hätte, faszinierte mich der versteckte Blick in die Umkleidekabine nebenan. Nachdem das Po-Monster sich zu den elektrischen Haartrocknern verpieselt hatte, wartete ich gespannt darauf, dass weitere Badegäste den engen Raum hinter der Wand bezogen. Nur wenige Minuten später hörte ich das Öffnen eines Schrankes und gleichzeitige Herausfallen eines Geldstücks, welches man als Schlüsselpfand einwerfen musste. Neugierig schaute ich unter der erhöhten Tür meiner Kabine hindurch und sah zwei dunkel behaarte Männerbeine. Erleichtert richtete ich mich auf und lauschte, wie der Mann seine Klamotten an den Haken nebenan hing. An den hellblauen Sportschuhen konnte ich mir ausmalen, dass es sich wohl bei dem Fremden nicht um einen Rentner handelte.
Die Tür wurde verschlossen. Mit angehaltenem Atem wanderte meine Pupille zurück an das kleine Loch vor mir. Es war dunkel. Doch warum? Hatte der Unbekannte etwa etwas davor geklebt, um nicht beobachtet zu werden? Schnell kombinierte ich, dass er anscheinend sein Handtuch über die Ablage unter dem kleinen Spiegel gehängt hatte, der nur wenige Zentimeter über meinem Guckloch an der Wand befestigt war. Mit einem lauten Husten griff er kurz darauf nach dem blauen Stück Stoff und begann, gründlich seinen nassen Körper abzurubbeln, was für mich freie Sicht auf fremde Haut bedeutete. Zu meiner Freude präsentierte er dabei seinen großen Schwanz direkt vor meinen Augen. Er war mir so nah, dass ich jede kleine Hautunebenheit zwischen seiner Schambehaarung sehen konnte. Noch nie in meinem Leben konnte ich so ungeniert ein männliches Glied betrachten. Faszinierend bewunderte ich seine große Eichel, die fast komplett von einer braungebrannten Vorhaut umschlossen war. Viel zu schnell zog der Badegast eine weiße Unterhose darüber. Nun stellte sich mir nur noch die Frage, zu wem dieses ausgeprägte Geschlechtsteil gehörte. Ich öffnete die grünen Türen zu beiden Seiten und tat so, als würde ich gerade angekommen sein und meine Sachen in den Spind räumen. Im richtigen Moment drehte ich mich um. Die behaarten Beine gehörten einem sportlichen Mann, den ich zuvor dabei bewundert hatte, wie er mehrmals vom Fünf-Meter-Brett ins Wasser gesprungen war. Zwar stand ihm die Brille, die er nun auf der Nase hatte, nicht so gut, doch interessierte mich sein Gesicht sowieso nicht so sehr wie sein Körper.
Von diesem Tag an zog ich es vor, allein zum Schwimmen zu gehen. Nach intensiver Begutachtung der einzelnen Wände prägte ich mir schnell die Kabinen ein, in der man mehr erleben konnte, als in anderen. Nach wenigen Tagen wusste ich, dass anscheinend fast jeder Jugendliche in meinem Alter von der Feuchtigkeit und den halbnackten Körpern im Bad angeheizt wurde. Es scheint das Normalste auf der Welt zu sein, dass junge Männer sich unter diesen Umständen Erleichterung verschafften. Immer wieder ernteten meine Blicke das, worauf sie es abgesehen hatten: Mitschüler, aber auch Fremde, entkleideten sich vor meinen Augen, spielten an sich herum und spritzen lustvoll in ihre Handtücher oder auf die eh schon recht dreckigen Kabinentüren. Sobald allerdings eine Frau sich vor meiner Linse entkleidete, zog ich es vor, meinen Ausguckplatz zu verlegen.
Zu meinem Leidwesen schlich sich schnell ein derber Muskelkater in meine Beine, da ich mich immer wieder auf den Boden hockte oder nach vorne beugte, um zu sehen, welches Paar Füße als nächstes auf mich zukam. Mit den Wochen waren aber auch diese Regionen so trainiert, dass ich keine Beschwerden mehr hatte. Es gab allerdings noch ein anderes Problem, dass ich bisher völlig außer Acht gelassen hatte. In jeden Gang hingen Überwachungskameras, die dem Personal Aufnahmen meiner Bäumchen wechsle dich Spielchen übermittelten.
 
Daran hätte ich wirklich denken müssen. Wahrscheinlich war der mürrische Bademeister schon des Öfteren an mir vorbei gegangen, ohne, dass ich es auf mich bezogen hatte.
 
Da seine Warnungen mich nicht erreichten, sprach er mich irgendwann direkt an, als ich mal wieder am Automaten für Badekappen und Seife vorbei hetzte, um in den anderen Gang zu gelangen.
"He Junge, was machst du hier eigentlich die ganze Zeit? Das ist hier kein Spielplatz. Ist das klar?" wetterte er verärgert und kratze sich dabei bedrohlich an seinem grauen Vollbart.
Er hatte mich ertappt. Ohne auf seine Worte zu reagieren, rannte ich mit knallroter Birne zurück in die Schwimmhalle, um mit meiner Taucherbrille ein paar hübsche Badehosen und knutschende Pärchen unter Wasser zu begucken. Mein neues Hobby faszinierte mich und lieferte mir pausenlos neuen Stoff, der meine Fantasie anregte. Jetzt, wo alles so gut lief, wollte ich da weitermachen, wo ich aufgehört hatte. Von so einem blöden Bademeister wollte ich mir die Tour jedenfalls nicht vermasseln lassen. Die Alternative, die sich mir zum bisherigen Treiben bot, war bescheiden: Stundenlanges Duschen mit Blick auf unerigierte Schwänze, die dann wohlmöglich gleich im Anschluss zur Tat schreiten würden, reichten mir nicht.
Doch wie sollte man es anstellen, unentdeckt von den Kameras zu agieren? Der Kabinenwechsel schied zukünftig aus. Was war da naheliegender, als sich dauerhaft in einer gut gelegenen, hoch frequentierten Umkleide zu verstecken? Natürlich war mir bewusst, dass ich nicht vorbildlich handelte und es nicht riskieren durfte aufzufallen.
Ein Hausverbot in der Badeanstalt wäre nicht nur peinlich, sondern käme einer Abschiebung ins Ungewisse gleich.
Mein neues Hobby, das seit Neustem mein Leben immens bereicherte, wollte ich nicht durch Unachtsamkeit aufs Spiel setzen. Ich entschied mich, einfach längere Zeit in der Umkleide zu verweilen, ohne dabei Opfer der Kamera zu werden. Nach anfänglichen Tollpatschigkeiten, bei denen meine Neugier dann doch nicht immer verborgen blieb, entwickelte ich mich langsam zum Spanner-Profi. Zum Beispiel lugte ich nicht mehr über die Kabinen, denn das konnte man im Spiegel der begutachteten Kabinen sehen. Größere Löcher stopfte ich mit Taschentüchern zu, sodass es auf der anderen Seite so aussah, als wäre ich derjenige, der sich vor dreisten Voyeuren schützte. Wer konnte auch schon ahnen, dass das zusammengeknüllte Papier nur locker hineingestopft war. Wie durch einen Schleier konnte man wahrnehmen, was sich auf der anderen Seite abspielte. Im richtigen Moment zog ich den Pfropfen einfach wieder heraus, um genau hinsehen zu können. Stehende Personen sehen von oben sowieso nicht, was unten passiert. Der Blick unter der Kabine hindurch blieb natürlich die Hauptattraktion. Mein größter Feind neben dem Bademeister war die rothaarige Frau von der Putzkolonne. Jede volle Stunde startete sie mit ihrem bollernden Wagen zu einer neuen Runde durch den Umkleidebereich. Zu meiner Überraschung hatte sie bei jedem Durchgang eine neue Feudeltechnik parat. Mal zauberte sie nasse Wellen, ein anderes Mal pingelig gerade Wischlinien auf den hellgrauen Fliesen. Badegäste, die ihr unachtsam in die Quere kamen, wurden unsanft zu Recht gewiesen.
"Ziehen Sie sofort die Schuhe aus! Sie sehen doch, dass der Boden frisch gewischt ist!"
Anschließend schüttelte sie genervt den Kopf und fügte ein entrüstetes "Also so was!" hinzu. Belegte Kabinen wurden von der Putzfrau zum Glück faul ausgespart, was mir selbstverständlich zugutekam. Neben ein bisschen Proviant wie Keksen, Obst und Cola befanden sich in meiner großen Badetasche diverse Handtücher, Badehosen, verschiedenfarbige Strümpfe und oftmals auch mehrere Paar Schuhe.
Bei jedem Rundgang sah es von außen so aus, als hätte sich gerade wieder jemand Neues hinter den grünen Türen verschanzt. Man sollte die Kombinationsgabe einer eifrigen Hallenbad-Putzfrau besser nicht unterschätzen.
Nachdem ich einen Großteil der Bürger unserer Stadt beim Umziehen und wichsen gesehen hatte, bemerkte ich, dass es noch andere Profis in meinem Umfeld gab. Als ich mal wieder angeregt durch eine der Bohrungen starrte und einen erigierten Schwanz vor mir auf und ab hüpfen sah, erschien überraschend ein Auge direkt vor mir. Das Auge auf der anderen Seite blickte mich direkt an. Man hatte mich erwischt. Erschrocken schreckte ich zurück und erwartete ein lautes Donnerwetter, doch alles blieb ruhig. Nur einer der Föhne am Ausgang surrte ermahnend im Eingangsbereich. Für einen Moment überlegte ich, meine vollgepackte Tasche zu schnappen und schnell Reißaus zu nehmen, doch das ungewöhnliche Verhalten des erigierten Mannes zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Vorsichtig schaute ich auf seine Badelatschen, die darauf hinwiesen, dass der Unbekannte, mit gespreizten Beinen auf seiner Sitzbank saß. Vom rhythmischen Wackeln seiner Zehen konnte ich ableiten, dass er inzwischen damit beschäftigt war, an sich herumzuspielen. Da der Wichser offensichtlich kein Problem damit hatte, dass ich ihn beobachtete, bezog ich meine gewohnte Position und blickte ungeniert auf das Treiben vor meinen Augen. Der etwa fünfundvierzigjährige Mann, mit leichtem Bauchansatz und haarigem Körper spielte anscheinend in einer anderen Liga.
Er wollte gesehen werden. Meine Blicke regten ihn an, egal. Hierbei störte ihn mein junges Alter anscheinend nicht. Wahrscheinlich fand er es aber extra anregend, dass ich gerade erst vierzehn Jahre alt war.
Seine rechte Hand, mit der er den großen Männerpenis wichste, trug einen Ring mit einem schwarzen Stein, der im Licht der Neonlampen bei jeder seiner immer schneller werdenden Bewegungen funkelte. Nachdem er gekommen war, ließ er es sich nicht nehmen, weiterzumachen. Die Freude, die ich ihm durch meine versteckte Anwesenheit bereitete, ließ ihn wenig später noch einmal angeregt auf seinen Bauch spritzen.
Neben der Lust, die mir seine Show bereitete, bekam ich es dennoch mit der Angst zu tun. Wie sollte ich bloß reagieren, wenn er mich ansprechen würde? Meine Schicht beendete ich für diesen Tag und verließ mit gemischten Gefühlen die Badeanstalt.
Unterwegs drehte ich mich mehrfach unauffällig um, um sicher zu gehen, dass der Exhibitionist mich nicht verfolgte. Ein wenig unheimlich und unwirklich war unsere Begegnung schon. Immerhin hätte der Typ mein Vater sein können. Die Vorstellung, dass ein Mann jenseits der vierzig überhaupt noch sexuell aktiv sein würde, verdrängte ich, zumal immer wieder das Gesicht meines Erzeugers in meinen Gedankengängen aufblitzte.

Für den Augenblick, Band 2

Prolog

"Ich bin schwul. Ich bin schwul. Ich bin schwul."
Immer und immer wieder kamen mir diese Worte in den Kopf. Und sie fühlten sich gut an – richtig gut.
Lucas Timm, 18 Jahre jung, Verwaltungsbeamter und schwul. Das war doch mal wieder eine schöne Eigenschaft, die mich vom typischen Bild eines Behördenfuzzis abhob, grinste ich zufrieden.
Warum ich erst Michel treffen musste, um festzustellen, dass man Männer nicht nur körperlich begehren, sondern auch lieben konnte, wissen die Götter – doch die schienen es zumindest wirklich gut mit mir zu meinen.
Der attraktive, dunkelhaarige Mann, der nach meinen ersten Einschätzungen fast doppelt so alt war wie ich selbst, ließ das Herz in meiner Brust in Flammen stehen. Schon der Gedanke an ihn überflutete meinen Körper mir einer angenehmen Wärme, deren Intensität in meiner Lendengegend unübersehbare Spuren hinterließ. Dabei hatten wir uns bisher doch nur ein einziges Mal unterhalten. Doch die Tatsache, dass der Geschichtslehrer mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer über den Tisch geschoben hatte, bestätigte mich darin, dass auch er ernstes Interesse an einer gemeinsamen Zukunft mit mir hatte. Ein Mann. Ein richtiger, erwachsener Mann. Jemand, der offensichtlich der Meinung war, dass mein Intellekt und mein nach außen hin sicheres Auftreten perfekt in sein Leben passten.
Vielleicht würde meine Liebe genau die Lücke füllen, die auch in Michels Leben darauf wartete, geschlossen zu werden. Die vielen, vielen Jahre, die er sich auf der Suche nach Zweisamkeit allein im Café Gnosa um die Ohren geschlagen hatte, waren nun endlich vorbei.
Der Gedanke, die Kleinstadt spätestens nach Beendigung meiner Ausbildung weit hinter mir zu lassen und ein aufregendes Leben in Hamburg zu starten, war mit einem Mal in greifbare Nähe gerutscht. Mir war bewusst, dass es bis dahin noch eine Menge zu tun gab. Schließlich bin ich Realist und mache mir nicht vor, dass in meinem Leben alles problemlos über die Bühne geht.
Zum einen musste der richtige Moment gefunden werden, meiner Mum schonend beizubringen, dass ich zeitnah das elterliche Haus verlassen wollte. Zum anderen konnte ich nicht einschätzen, wie sie reagieren würde, wenn ich mit einem Mann zusammenzöge. Einem attraktiven, charmanten und intelligenten Typ, um den sie mich sicherlich beneiden würde. Ich hatte wirklich einen tollen Fang gemacht.
Nur für einen ganz kurzen Augenblick kam mir der Gedanke, eventuell ein wenig naiv mit der ganzen Situation umzugehen. Es wird sicherlich nicht leicht für sie sein, aber da müssen Eltern halt auch mal Stärke beweisen. Es gibt nun wirklich Schlimmeres im Leben. Wieso um Himmels willen sollte meine Mutter ein Problem damit haben, dass ich schon bald ausziehen würde.

Kapitel 1

Das Coming Out ist für die meisten Leute ja nicht nur ein Kampf mit dem eigenen Umfeld, sondern auch ein Finden und Anfreunden mit dem neu-entdeckten Ich.
Die schwierige Phase, in der man in sich hineinhört, um die eigene Identität neu zu definieren, konnte ich glücklicherweise komplett überspringen.
Mein Schwulsein war mir mit einem Mal vollends bewusst. Ich hatte keinerlei Probleme damit, anders zu sein. Es gefiel mir sogar.
Natürlich spukten auch mir die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf.
Speziell die Frage, wem ich von meiner neuen Erkenntnis berichten wollte und vor allem, wann der richtige Zeitpunkt dafür sein würde, machte mich nervös. Innerlich platze ich fast vor Aufregung, jemandem die Neuigkeit mitzuteilen.
Selbstverständlich konnte ich nicht bei jedem mit der Tür ins Haus fallen. Tief in mir bemerkte ich zudem einen Anflug der Angst, bei Menschen, die mir wichtig waren, auf Ablehnung zu stoßen, aber diese Bedenken schob ich fürs Erste beiseite. Auf jeden Fall musste ich als erste meine Seelenverwandte Undine in mein neues Leben einweihen. Ob sie vielleicht schon eine Ahnung hatte, ohne mich darauf angesprochen zu haben? Das wäre ja ‘n Ding! Immerhin durchschaute sie mich doch sonst immer, wenn ich eine Notlüge benutzte oder versuchte, ein mir anvertrautes Geheimnis für mich zu behalten.
Dringend benötigte ich nun auch einen Rat, wie ich meiner Herzensdame Michaela möglichst schonend beibringen könnte, dass es mit uns aus sei, ohne sie dabei allzu sehr zu verletzen.
Immerhin hatte ich gerade auf dem gebiet "Trennungen" in der Vergangenheit folgeschwere Fehler gemacht, die ich auf keinen Fall wiederholen wollte.
Nachdem ich am Dienstag die Verwaltungsschule hinter mich gebracht hatte, schwang ich mich auf mein grünes Fahrrad, um Undine die angenehme Neuigkeit zu eröffnen. Mir wehte ein orkanartiger Wind entgegen, als ich über die lange Bahnbrücke in Richtung Stadtteich strampelte.
Der angenehm warme Luftstrom hatte etwas Befreiendes. Wahrscheinlich hätten auch Hagel und Gewitter mir die Laune nicht vermiesen können. Mein neues Bewusstsein beflügelte mich in allem, was ich tat.
Nur eine Viertelstunde später überquerte ich das große Waldgrundstück, auf dem sich das weißgestrichene Einfamilienhaus von Undines Familie hinter ein paar Tannen versteckte.
Mit jedem Schritt, den ich auf dem mit Moos bewachsenen Plattenweg zurücklegte, wurde ich ein wenig unruhiger. Wie sollte ich das Gespräch anfangen? Die Wahrheit einfach hinaus schreien und abwarten, was passieren würde? Auf jeden Fall musste ich Undine klar machen, dass sie die Neuigkeit erst einmal für sich behalten musste. Niemand sollte durch unachtsame Tratscherei erfahren, was wirklich mit mir los ist. Der richtige Zeitpunkt sollte ganz allein von mir bestimmt werden.
Wie bei jedem Besuch ertönte beim Drücken des Klingelknopfes ein lautes Kläffen aus dem Haus. Immer wieder zuckte ich erschrocken zusammen, dabei wusste ich doch, dass mir schlimmstenfalls ein unachtsames Über-den-Haufen-Rennen mit anschließender Bauchlage auf die kalten Fliesen des Eingangsbereichs bevorstand. Mischlingshündin Sabrina begrüßte mich dementsprechend rabiat, indem sie mehrmals mit ihrer feuchten Schnauze an mir hochsprang. Meine Vorliebe für sabbernde Vierbeiner hielt sich schon immer in Grenzen.
So wirklich habe ich nie verstanden, warum diese Familie sich so für Hunde interessierte. Wir lagen doch auch sonst in den meisten Dingen auf einer Wellenlänge. Ich wollte nach Möglichkeit nichts mit Sabrina zu tun haben. Maßgeblichen Anteil daran hatte auch die Tatsache, dass in regelmäßigen Abständen eine mit Blut verschmierte Decke auf dem Familiensofa lag, wenn die Hündin mal wieder ihre Periode hatte. Die Erinnerung an meine Ex-Freundin aus Wuppertal, die mir mit ihrer Sturz-Periode den Einsatz zum Sex versaut hatte, ließ sich dabei nicht ausblenden. Immerhin roch sie damals nicht so extrem.
An diesem Nachmittag stellte ich erfreut fest, dass ich mich mit diesem Thema in Zukunft wohl kaum noch beschäftigen müsse. Die positiven Aspekte summierten sich.
Undine war äußerst überrascht, mich zu sehen, da ich meinen Besuch an diesem Nachmittag nicht, wie es sonst der Fall war, angekündigt hatte.
"Hey Lucas! Was machst du denn hier? Ich habe gerade Klavier geübt. Nutella-Toast?"
"Und ob. Ich hab dir etwas Wichtiges mitzuteilen und brauche dringend deinen Rat, " machte ich mich schon einmal ein wenig interessant.
Mit zwei Bechern Kakao und sechs Broten verzogen wir uns kurz darauf in ihr Zimmer.
 
"Die müssten fürs erste reichen", sagte Undine, als sie die Teller auf ihren Schreibtisch stellte.
Während sich meine engste Vertraute auf das Bett schmiss, in dem wir noch vor wenigen Jahren Doktorspiele gemacht hatten, legte ich mich ausgestreckt auf den Teppichboden vor dem Schreibtisch.
"Ich habe mich das erste Mal richtig verliebt", eröffnete ich unser Gespräch mit einem breiten Grinsen.
"Ja, denkst du denn ich bin blind? Das merkt man dir doch seit Tagen an, " überraschte sie mich ein wenig. Hatte sie es wirklich die ganze Zeit gewusst?
"War ja kaum zu übersehen, wie du mit Michaela rumgeknutscht hast. Die ist aber auch wirklich eine ganz Liebe, " triumphierte sie mit ihrer Beobachtungsgabe, ohne zu bemerken, dass sie sich komplett auf dem Holzweg befand.
"Das ist dann auch genau das Problem...," erhöhte ich die Spannung und seufzte laut auf.
Undine guckte mich ratlos an.
"Aha", folgerte sie schnell. "Wie heißt sie?"
"Michel!"
Pause.
"Ich habe mich in einen Mann verliebt. Ich bin schwul!"
Die Kinnlade war meiner besten Freundin heruntergefallen, so dass ich die Nutella-Toast-Reste an ihren Backenzähnen sehen konnte. Für einen Moment sagte niemand etwas. Die Stille wurde durch irritiertes Kichern unterbrochen. Dachte sie nun, ich hätte sie verarscht, oder was? Die nächsten Sekunden waren mir sehr unangenehm. Was war das denn bitte für eine Reaktion?

Der Hingucker, Band 3

Lucas Tibor Timm, vierundzwanzig Jahre alt, Regierungshauptsekretär und Single. Mit dem Beruf des Verwaltungsfuzzis konnte ich inzwischen gut leben und auch mein Name gefiel mir. Doch wieso war es für einen Mann in meinem Alter eigentlich so schwierig, jemanden kennenzulernen, der gemeinsam mit einem altern wollte? Ich war mein Single-Leben inzwischen so was von leid. Seit der Trennung von Felix war fast schon wieder ein Jahr vergangen, ohne dass ich das Gefühl in jemandem geweckt hatte, es sich dauerhaft an meiner Seite bequem zu machen. Zwar hatte ich unzählig viele Abenteuer und konnte mich sicherlich nicht über einen Mangel an Sex beschweren, dennoch konnten mir die kurzen und oftmals recht anonymen Aufeinandertreffen nicht das geben, wonach ich wirklich suchte: Einen Mann, der erkannte, wie sehr ich mich nach Liebe und Geborgenheit sehnte. Ich hatte so viel zu geben, doch niemand schien an einer wirklich tiefgehenden Beziehung interessiert zu sein. Die nächtlichen Bettgeschichten mied ich nach wie vor, um meinem Magen die unnötigen Strapazen zu ersparen, jedoch war ich neuerdings wieder Dauergast im Café Gnosa.
Zu schade nur, dass der sexy Spanier von der Bildfläche verschwunden war. An seiner Stelle jobbte jetzt ein extrem alternativer, langhaariger Typ mit Brille und Bart hinter der Kuchentheke. Mit ihm hätte ich ohne weiteres eine Unterhaltung anzetteln können, da er anscheinend ohne Aufsicht arbeiten durfte. Aber worüber sollte man mit so einem Typen sprechen, wenn nicht über Umweltverschmutzung, Atomkraft, Gleichberechtigung von Homosexuellen oder Öko-Tomaten? Mit Juan Carlos wäre alles so einfach gewesen. Bei ihm hätte ich einfach einen Marzipan-Penis bestellt und frech gefragt, ob er dafür Modell gestanden hatte. Wäre seine Antwort "Nein" gewesen, hätte ich geantwortet, dass ich mir das denken konnte, da man so große Dinger wahrscheinlich nie allein herunterbekommen würde. Bei einem "Ja, das ist wie mein Schwanz", hätte es mir eventuell aus Frust die Sprache verschlagen, obwohl ich selbst in etwa den ausgelegten Maßen entsprach. Wie so oft in letzter Zeit, verrannte ich mich ein wenig in abstruse Fantasien, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatten.
Bevor ich mich an einen freien Tisch setzte, tat ich so, als würde ich den Stapel Zeitschriften in der Mitte des Cafés nach einer passenden Lektüre durchsuchen. In Wahrheit checkte ich jedoch die Männer auf den umliegenden Plätzen ab. Auch an diesem Abend schien niemand in Reichweite zu sein, der auf den ersten Blick als Heiratskandidat in Frage kam. Spontan machte ich kehrt und zog es vor, ein anderes Mal wieder zu kommen. Wozu Geld ausgeben und die Zeit absitzen, wenn nichts zu holen war. "Na? Was steht heute noch bei dir an? Ist doch endlich Wochenende", quatschte mich der Alternative überraschend an, als ich sichtlich niedergeschlagen die Flucht in Richtung Ausgang antrat.
"Keine Ahnung. Vielleicht werde ich aufs Land fahren und Bio-Kartoffeln aus dem Garten meiner Mutter essen" machte ich mich gewohnt schlagfertig über ihn lustig, was mir im selben Moment schon wieder leid tat. Es ist ja schließlich nicht verkehrt, sich für unseren Planeten und gegen Umweltzerstörung einzusetzen. Völlig zu recht, quittierte der Langhaarige meinen dämlichen Spruch mit Augenrollen und drehte mir den Rücken zu, während ich mich durch einen Pulk Lesben hindurch auf die Straße drängelte und dem letzten Trampeltier aggressiv die Tür in die Fersen schlug. Meine Nerven lagen blank. So unausgeglichen erkannte ich mich selbst kaum wieder. Die Frage des Öko-Frosches, was ich noch mit dem angebrochenen Samstagabend machen sollte, war im Grunde genommen mehr als berechtigt. Die wenigen schwulen Freunde, die ich hatte, waren entweder schon anderweitig verabredet oder hatten sich gerade mal wieder neu verliebt und genossen die traute Zweisamkeit auf dem heimischen Sofa, was eine geduldete Vernachlässigung rechtfertigte. Wenn man aber mal ehrlich war, musste man sich eingestehen, dass ich eigentlich derjenige war, der langsam mal an der Reihe war, einen neuen Lover zu präsentieren. Ich wollte auch mal wieder einen Grund haben, meine Freunde links liegen zu lassen. Sollte ich tatsächlich heute Nacht wieder los ziehen und mich von der Anonymität in dunklen Discos weiter herunterziehen lassen? Ich hatte keine Wahl. Zu Hause vor dem Fernseher würde ich meinem Traummann nicht begegnen.
In der dunklen Fensterscheibe des Käseladens musterte ich mich unauffällig von oben bis unten. War irgendetwas verkehrt an mir? Wäre ich nicht der Mann, der sich dort im Glas spiegelte, würde ich nicht lange fackeln und mein Ebenbild mit nach Hause nehmen, bevor es mir jemand anderes wegschnappte. Nach meinem Frisörbesuch vor zwei Tagen musste ich mich allerdings selbst erst einmal mit meinem neuen Erscheinungsbild anfreunden. Ursprünglich wollten ich meinem Haar wie gewohnt mit ein paar hellen Strähnen neuem Glanz verhelfen, doch der Hairstylist meinte es zu gut, indem er nicht an Bleichmittel sparte und meine Matte so in eine wasserstoffblonden Kurzhaarfrisur verwandelte. Völlig unnatürlich – aber irgendwie auch modisch und auffällig. Meine neue Identität war eine Mischung aus Madonna in ihrem Video zu "Vogue" und dem verschrobenen und unheimlichen Gangster, der in ihrem Erfolgsfilm "Susan, verzweifelt gesucht" Jagd auf die sündhaft teuren Nephatiti-Ohrringe macht. Quasi genau das Richtige für einen selbstbewussten Mann.
Stundenlang probierte ich vor dem Spiegel meines Kleiderschranks ein Outfit nach dem anderen. Im Gegensatz zur eher tuntigen Haarpracht musste ein neutrales oder männliches Erscheinungsbild her. Grüne Hemden und gestreifte Pullover wanderten auf direktem Weg zurück auf den Bügel. Am Ende entschied ich mich für ein schwarzes Poloshirt, dass man anstelle von Knöpfen mit einem recht langen Reißverschluss öffnen konnte. Zum einen praktisch, weil man sich beim Tanzen ein bisschen besser durchlüften konnte und zum anderen punktete ich bei Typen, die auf Brusthaar standen. Mein Lieblingsoberteil, das relativ weit geschnitten ist, kombinierte ich mit einer engen, dunkelblauen Levis 501, die meinen kleinen Po sehr viel größer wirken ließ, als er ist. Für eine Märznacht war es unter freiem Himmel recht kühl und so kramte ich meinen Wintermantel mürrisch wieder heraus. Innerlich war ich schon auf Frühling eingestellt und bemüht, die dunkle Jahreszeit so gut es ging zu verdrängen. Eine Erkältung wollte ich dennoch nicht riskieren. Zufrieden mit meiner Erscheinung marschierte ich noch einmal über den roten Flurteppich, löschte das Deckenlicht und verschwand voller Erwartungen in der dunklen, kalten Nacht.

Fernstecher Gran Canaria, Band 4

Die größten Schwierigkeiten bereitete es mir, Juans Gesicht für viele Wochen nicht sehen zu können. Durch die täglichen Telefonate und Faxe nach Gran Canaria war ich zwar immer im Bilde, wo er war und was er so trieb, doch wollte ich seine Blicke spüren. Das Wissen, welche Klamotten er sich morgens aus dem Schrank geholt und ob er vielleicht mal wieder einen Augenbrauenschnitt nötig hatte, fehlte mir. Es gab eine ganz einfache Lösung, dass Problem aus der Welt zu schaffen: Juan brauchte einen Computer. Ich, der bereits seit mehreren Jahren die Vorzüge des Internets für mich entdeckt hatte, konnte meinen Freund einfach nicht dazu bewegen, sich ebenfalls einen PC anzuschaffen. Immer wieder schob er den Kauf eines Computers auf, obwohl es ihm finanziell sehr viel besser ging als mir. Kein Wunder, wenn man nicht einmal Miete zahlen muss. Für seinen Winterurlaub in Hamburg hatte ich einen durchtriebenen Plan ausgeheckt, der Juan mit Sicherheit dazu bringen würde, sich technisch aufzurüsten. Ich kaufte mir eine Web-Kamera und installierte ein Programm für schwulen Cam- Chat. Seit Monaten schwärmte mein Freundeskreis vom aufregenden Cybersex im heimischen Wohnzimmer. Gebannt starrte auch meine Erektion neuerdings mehrmals wöchentlich in das Objektiv an meinem Monitor, während Männer aus der ganzen Welt an meiner "Eigenliebe" teilnahmen. Als treuer Partner meines Spaniers konnte ich durch regelmäßiges Klicken auf das kleine, grüne Symbol auf meinem Desktop sexuelle Erfüllung erlangen, ohne ihn dabei auf irgendeine Art und Weise zu hintergehen. Juan staunte nicht schlecht, als ich ihm am Tag nach seiner Ankunft in Hamburg die vielen Chat- Räume und Schwanzprofile präsentierte. "Was? Das geht alles umsonst? Die viele Popos und Pillermanns anzugucken?" fragte er aufgeregt. "Wie mache ich ein Profilbild", schritt der aufgeheizte Kerl gleich zur Tat. Ich erklärte ihm, wie er meine Informationen ändern konnte und machte mit meiner Webcam ein Bild von seinem muskulösen Bauch. Sein spontan ausgedachter Chatname BigBallsofFire passte wie die Faust aufs Auge. Sekunden nachdem das neue Mitglied sein Profil fertig gestellt hatte, klingelte der erste Wichser an, um meinem Freund einen beachtlichen Ständer vor die Nase zu halten. Vom Sofa aus beobachtete ich, wie Juan langsam seine Jogginghose herunterließ und seinen nächsten Trumpf ausspielte. "Das ist ja was hier! Er will mein Gesicht sehen. Soll ich es zeigen?", stammelte er aufgeregt, während er sein T-Shirt achtlos vor mir auf den Couchtisch warf. Mein Freund stellte das Objektiv langsam nach oben und guckte fordernd, um sein Gegenüber heiß zu machen. Mit einem lauten Pling erschien eine neue Textnachricht im Chatfenster: "Du hast einen schönen Körper" Erneutes Klingeln signalisierte das Ende der Cam- Session. LongDongMunich hatte sich überraschend verabschiedet. Juan guckte im selben Moment so verdutzt, dass ich laut auflachen musste. Immer wieder schrie er gekränkt: "Er mag meinen Kopf nicht. So eine blöde Arschloch!" User Papote aus Mexico unterbrach seinen Frust. Da mein Freund vergessen hatte, die Linse wieder auf seinen Bauch zu stellen, war dem neuen Teilnehmer gleich klar, mit wem er es zu tun hatte. Gesichtskontrolle bestanden. Angeregt fingen die beiden an, sich ihre aufgebäumten Schwänze zu zeigen und wild daran herumzuspielen. Immer wieder tippte Juan anfeuernde, spanische Worte auf der Tastatur. Ein bisschen komisch kam ich mir als Zaungast der Live-Aktion schon vor, wie ich daneben saß und dem Mann, den ich liebte, dabei zusah, mit Menschen aus der ganzen Welt herumzumachen. Die Verzückung, die er dabei mit seiner eigenen Begeisterung in mir auslöste, überwog jedoch. Wieso sollte man auch auf einen Computer eifersüchtig sein. "Komm her und lutsch mich mal ein bisschen", grunzte Juan im nächsten Augenblick in meine Richtung. Was sollte man sich da lange zieren. "Du bist vor mein Pilli. Papote kann gar nicht mehr sehen. Dreh Dich ein wenig", dirigierte BigBallsofFire mich, indem er meinen Kopf mit den Händen zurecht schob. Im nächsten Moment überkam mich ein kleiner Lachanfall, als ich in das konzentrierte Gesicht über mir schaute. Entnervt verfrachtete Juan mich aus dem Zimmer. "Du kannst vielleicht mal die Wäsche machen", lachte er. Nur wenige Minuten später hörte ich ein lautes Keuchen vom Schreibtisch, während ich die frisch gewaschenen Unterhosen ordentlich zusammenfaltete. Alltags-Romantik auf höchstem Niveau. Der Insulaner hatte soeben seinen ersten Cybersex erfolgreich beendet und rannte mit vollgespritzter Brust ins Badezimmer. Trotz Freude und Anregung, die er mir durch seine Blicke und Worte bereitet hatte, konnte man nach seinem Entspannungsakt sicherlich nicht mehr auf gemeinsame Körperaktivitäten hoffen. Es musste ja nicht jeder gemeinsame Tag mit Sex zu Ende gehen. Jedenfalls freute ich mich, dass er blindlings in meine Computerfalle getappt war. Zu meiner Freude legte der Potenzprotz beim Zubettgehen erneut los. Der Kamera- Chat hatte wohl noch erotisierende Nachwirkungen, die nun auch mich zum Zuge kommen ließen. Mein eingefädelter Plan ging jedenfalls auf: Bereits zwei Tage nach seiner Rückkehr auf die Kanaren, war mein Freund Besitzer eines Computers mit eigener Webcam. Endlich konnten wir uns täglich in die Augen sehen. Juan, der von nun an noch mehr an sich herumspielte, als es bisher schon der Fall war, entdeckte schnell weitere Vorzüge eines Computers. Ohne den technischen Fortschritt geht heute eben nichts mehr. Manche Leute müssen erst zu ihrem Glück gezwungen werden, um diese wichtige Erkenntnis zu erlangen.

Zimmer mit Einblick, Band 5

Fünf Tage Bürgerservice die Woche können ganz schön schlauchen. Was gibt es da besseres, als freitags um zwölf Uhr die Eingangstür abzuschließen und letzte wartende Kunden schnellstmöglich durch Turbo-Geschwindigkeits-Bearbeitung loszuwerden. In der Regel genoss ich an diesen Tagen die Ruhe am Nachmittag und drehte den CD-Player auf meinem Schreibtisch laut, führte ein paar private Telefonate oder benutzte den leeren Warteraum dazu, tanzend meine Ablageberge alphabetisch zu sortieren. Jeder Sitzplatz ein Buchstabe. Im Nu waren die Massen an An- und Abmeldeformularen sortiert.
Der Fotofix-Automat in der Wartezone lockte mich jedes Mal, meine Genitalien schamlos ablichten zu lassen, da spätestens um ein Uhr mittags der letzte Kollege fluchtartig das Amt verlassen hatte. Bis heute habe ich die Chance für Pin-up-Bilder allerdings noch nicht wahrgenommen.
Wozu auch. Mir ist schließlich nicht unbekannt, wie ich untenrum so aussehe. Einen besonderen Kick gäbe es mir vielleicht, wenn ein hübscher Mitarbeiter in unmittelbarer Nähe Überstunden ansammeln würde. Bei der Behörde braucht mal allerdings gar nicht erst anfangen, einen attraktiven Bediensteten zu suchen. Ganz offensichtlich ist eine angenehme äußere Erscheinung in der Verwaltung ein Ausschlusskriterium für die Einstellung des starken Geschlechts. Da bin ich selbst wohl auf unerklärliche Weise irgendwie durchs Raster gerutscht!
Seit neuestem konnte es mir nicht schnell genug gehen, die muffigen Büroräume zu verlassen, mich an der alten Stechuhr im Keller auszustempeln und das Wochenende gebührend einzuläuten. Vor dem Zubettgehen stand meine gepackte Sauna-Tasche mit meinem weißen, flauschigen Bademantel, einem großen Handtuch, Eistee und frischem Obst bereit, um endlich wieder zum Einsatz zu kommen. In die Seitentasche steckten der unentbehrliche Handspiegel und ein Buch. Mein Weg führte mich vom Einwohneramt Harburg über die Elbbrücken direkt ins Holthusenbad.
 
Der gut gelaunte Mann mit dem dunkelblonden Schnauzbart und dem großen Ring am Finger begrüßte mich freundlich: "Na, wieder ne Runde Schwitzen?"
"Sie meinen wohl eher entsaften", beantwortete ich seine Frage besser mit einem zustimmenden Kopfnicken, als die Wahrheit auszusprechen.
 
Obwohl ich eine Sauna-Karte löste, zog ich es vor, mich für den Anfang in den Umkleidekabinen der Schwimmhalle zu verschanzen. Wahrscheinlich dachte der Angestellte, dass als erstes ein paar Bahnen zurückgelegt werden würden, bevor die große Entspannung im Dampfbad anstand. Da irrte er sich gewaltig!
Es gibt immer weniger Badeanstalten, in denen Männer und Frauen das Glück haben, sich gemeinsam umzuziehen, doch in den alten, braunen Sperrholz-Kabinen vor Ort, war dies nach wie vor möglich. Und die meisten verliebten Paare nutzten die Chance, ihre frisch geduschten Körper zu vereinen. Doch dazu später mehr.
Schon am frühen Nachmittag gaben sich hier körperlich Aktive die Klinke in die Hand, die sich gemeinsam entkleideten und anschließend nackt aneinander rieben. Diese Art von Körperkontakt war es, die mich neuerdings wieder alles um mich herum vergessen ließ. Zu meiner großen Enttäuschung gab es keine praktischen Gucklöcher in den Wänden und selbst brachte ich nicht den Mut auf, eigene zu bohren.
Es ging aber auch ohne Steinzeit-Spion. Man musste nur aufpassen, sich nicht dabei erwischen zu lassen, von unten in die Nachbarkabine zu luschern. Es forderte keine besondere Kombinationsgabe, auszumachen, in welcher Position die benachbarten Badegäste ineinander verkeilt waren. Saß die Frau, wie es meistens der Fall war, rittlings auf dem Schoß des Mannes hatte ich freien Blick auf den interessantesten Teil der Darbietung. Man brauchte sich eigentlich nur sitzend nach unten beugen und musste sich nicht verräterisch auf den kalten Fliesenboden knien. Sicherheitshalber packte ich dennoch meine große Badetasche an die Seite meiner Umkleide, damit andere Badegäste, die eventuell gerade an den Spinden herumliefen, mich nicht sehen konnten. Auch der dunkelhäutige Putzmann, der stündlich seine Wischtour machte, wurde so nicht unnötig aufgescheucht.
Als Lockmittel für Verliebte, bot die Therme ihren Gästen an Freitagen etwas ganz Besonderes: Zu klassischer Musik und lauschigem Kerzenschein standen Romantik und Leidenschaft auf dem Programm. Wie sich fortpflanzende Frösche klebte ein Paar neben dem anderen aufeinander und genoss hemmungslos die Zweisamkeit im warmen Sprudelwasser.
Da war es mehr als verständlich, dass man sich im Anschluss dringend Entspannung verschaffen musste.
 
Als erfahrener Profi lief ich keine Gefahr, mich erwischen zu lassen. Das Spiel mit dem Feuer verschaffte mir dennoch einen zusätzlichen Kick. Kam es trotz diverser Stoßzeiten einmal zum Leerlauf in den Nachbarumkleiden, cruiste ich ein wenig durch die Aroma- und Dampfbäder, um selbst auf meine Kosten zu kommen. Man fasste hier und dort ein wenig an, ließ sich heimlich lutschen oder verzog sich gemeinsam mit seinen Eroberungen in die abgelegene Herrendusche oder verschanzte sich auf dem Herrenklo. Entspannter konnte das Wochenende nun wirklich nicht eingeläutet werden.
 
Doch was war das? An diesem Freitag war alles anders.
Nachdem das eigentlich historische Holthusenbad im vergangenen Monat wegen Umbauarbeiten geschlossen war, freute ich mich umso mehr darauf, das Versäumte der letzten Wochen nachzuholen. Ich traute meinen Augen nicht. Zu meinem Entsetzen erkannte ich die mir so vertraute Spielwiese kaum wieder. Der verkehrsfördernde Umkleidebereich hatte sich komplett in Luft aufgelöst. Anstelle der braunen Holzwände gab es nun einen sogenannten Wellnessbereich mit Whirlpool-Muschel und abgetrennten Massageräumen, in denen sich gestresste Besucher gegen Aufpreis Gutes tun konnten. Ein Hinweisschild auf die Besucher-Kabinen im angrenzenden Wellenbad versetzte mir einen imaginären Schlag in die Lendengegend.
Die klassischen, häuschenartigen Umkleiden waren bis zum Boden zugemauert. Nur ein kleines Fenster im oberen Bereich der Tür gewährte vorbeischlurfenden Badegästen Einblick, ob besetzt war oder nicht. Was um Himmels Willen rechtfertigte eigentlich die saftige Erhöhung des Eintrittspreises, wenn einem achtundneunzig Prozent des Spaßes genommen wird? Pfui! Dies war jedenfalls das letzte Mal, dass ich auch nur einen Fuß in diese affige Schicki-Micki-Therme gesetzt habe.
Ich musste mir wohl oder übel ein neues Gebiet suchen, um mein Unwesen zu treiben.
Vielleicht wäre es einfach an der Zeit gewesen, meine voyeuristische Ader ein wenig zu bremsen? Allerdings hatte ich mich inzwischen daran gewöhnt, meine Fantasien Realität werden zu lassen.
 
In der nahgelegenen Alsterschwimmhalle gab es seit Jahren getrennte Abteilungen für Männer und Frauen, doch der abgelegene Bereich für Schwerbehinderte und Familien, bot meines Erachtens die einzige Alternative. Leider ging es dort bei weitem nicht so munter zur Sache, wie im Holthusenbad.
Immer dann, wenn schreiende Kleinkinder ihren Eltern und mir, der gelangweilt nebenan in seinem Buch las, den letzten Nerv raubten, fühlte ich mich schuldig. Ein schlechtes Gewissen outete mich selbst als Perversen, der auf der Lauer nach Verbotenem lag.
Auf der Flucht vor der Erkenntnis, nicht ganz normal zu sein, zog ich es vor, mich erst einmal durch die Duschen zu treiben und gezielt darauf zu achten, ob Paare gemeinsam die Schwimmhalle verließen. Die nackten Körper und prallen Badehosen um mich herumspielten mit meiner Lust.
Von dem mir Vorgesetzten angeheizt, musste ich einen kühlen Kopf bewahren, damit keiner der älteren Herren meine Situation schamlos ausnutzte. Allein die Tatsache, dass jemand einen großen Oschi in der Hand hielt, sollte meine Selbstachtung nicht unter den Tisch kehren. Dafür war ich zu sehr Kopfmensch. Oder etwa nicht?
 
 
Vor Jahren trafen aufmerksame Besucher der Alsterschwimmhalle von Zeit zu Zeit auf einen Mann, der aufgrund mehrerer optischer Makel schon recht skurril war. Der etwa vierzigjährige Typ mit schütterem, langem Haar trug eine billige Brille mit silbernem Kassengestell, die meistens durch die hohe Luftfeuchtigkeit der Badeanstalt beschlagen war.
Warum er ausnahmslos Boxershorts trug, die bis zum Knie gingen, blieb nicht nur meinem geschulten Auge verborgen. Der Hässliche hatte einen so großen Schwanz, dass man schon fast von einer Behinderung sprechen konnte. Verschämt versuchte er, das Teil, welches geschätzte vierzig Zentimeter lang war, zu kaschieren.
An einem frühen Freitagabend begegnete ich dem Unbekannten am Beckenrand. Gehemmt stolzierte er in engen Radlerhosen durch das Schwimmbad. Die anwesenden Schwulen guckten ungläubig und ein paar Teenie- Mädchen liefen rot an, als sie verschreckt kichernd an ihm vorbei schwammen. Der Guildo-Horn-Verschnitt war ein Hingucker, der mich trotz seiner unangenehmen Erscheinung auf eine gewisse Art und Weise faszinierte.
Der größte Schwanz, den ich bisher in den Händen hatte, war mit siebenundzwanzig Zentimetern schon ein heiliges Zepter. Als der Bodybuilder die orangefarbene Unterhose fallen ließ und mir die kräftige Schlange genau ins Gesicht grinste, zeigte ich mich bemüht unbeeindruckt.
Der Blondschopf war mir zuvor aus dem Wartezimmer meines Hautarztes gefolgt, nachdem er über den Rand seiner Fitness-Zeitschrift ersten Blickkontakt zu mir aufgenommen hatte. Erst nach dem beeindruckenden, animalischen Liebesspiel ließ ich mich doch noch dazu hinreißen, ihn nach seinen Maßen zu fragen. Schließlich muss man vor seinen Freunden ja auch Fakten präsentieren, wenn man glaubwürdig sein will. Siebenundzwanzig Zentimeter war schon eine ordentliche Hausnummer, die es wert war, im passenden Augenblick ins Gespräch gebracht zu werden.
 
 
Der verlotterte Mann, der stundenlang unter der heißen Brause stand, weil er sich kaum unter Menschen traute, weckte irgendwie den Beschützerinstinkt in mir. Armer Kerl. Was war er doch mit einem so großen Penis gestraft. Trotz enormer Ausdauer beim Duschen, gelang es mir nicht, seinen nackten, langen Rüssel ohne Klamotten zu begutachten. Warum sollte er ihn auch gerade hier auspacken. Angeekelt würden alle Männer um ihn herum die Flucht ergreifen. Ich selbst natürlich nicht. Das wäre schließlich demütigend. Schwul schien der Mann mit der blassen Haut jedenfalls nicht zu sein. Aber würde er bei Frauen mit einer solchen Latte landen können? Vielleicht wäre es nett von mir, wenn ich seiner Wichshand vielleicht mal aushelfen würde?
 
Meine Blicke fixierten die beschlagenen Gläser, doch wurde mir bei seinem Aussehen fast übel. Wie war das noch mit dem Gegenrechnen von Schwanzlänge und optischer Erscheinung? Der Typ war jedenfalls eindeutig im positiven Bereich.
Immerhin war der Penis, den er versteckte noch nicht einmal erigiert. Würde das Ding tatsächlich einmal seinen Weg in meinen Mund finden, könnte ich sein grausiges Gesicht auf die Entfernung sicherlich eh nicht mehr erkennen können. Es sprach also alles dafür, am Ball zu bleiben.
Hautaufweichendes Dauerduschen schien sich nach fast zwanzig Minuten auszuzahlen. Zu meiner Verzückung stand der fremde Schwanz nach einer gefühlten Ewigkeit tatsächlich ein wenig nach oben, ohne dabei merklich an Größe gewonnen zu haben. Meine eigene, türkisfarbene Badehose platze beinahe aus den Nähten und so holte ich meinen nächsten Trumpf heraus und hielt ihn unter den warmen Wasserstrahl.
Trotz des gezielten Einsatzes, tat es Guildo mir nicht gleich. Hatte er mich durch die feuchten Glasbausteine überhaupt bemerkt? Im nächsten Moment riss mich ein haariger Südländer in Begleitung seines heulenden Sohnes durch Öffnen der Tür aus meinem Traum. Blitzschnell packte ich meinen Ständer wieder ein und drehte den Wasserstrahl auf kalt. Das Geschrei des Kindes ließ sogar den Dauer-Einschäumer in Begleitung seiner treuen Schlange den Raum fluchtartig verlassen.
Von hinten sah der Mann mit den hängenden Speckrollen auch nicht besser aus. Dennoch ließ ich es mir nicht nehmen, ihm zu folgen.
Gezielt steuerte der Badegast auf den Familien-Umkleidebereich zu und verschanzte sich schnell in der Rolli-Kabine am Ende des Flures. Einen Moment zögerte ich. War der Mann aufgrund seines körperlichen Makels tatsächlich Besitzer eines Schwerbehindertenausweises und im Begriff, das Spaßbad zu verlassen? Fast machte ich mir Vorwürfe, vielleicht etwas zu offensiv gehandelt zu haben.
Meine Verfolgungsversuche hatten ihn doch hoffentlich nicht belästigt?
Vielleicht schämte er sich auch nur für seine langsam wachsende Erektion und weinte nun bitterliche Tränen, weil der Himmel ihn zu einer Witzfigur gemacht hatte. Sicherlich wäre nun der geeignete Augenblick, ihm ein bisschen Trost zu spenden. Zum Glück bin ich tolerant und habe nichts gegen Minderheiten.
 
Ganz vorsichtig griff ich nach der großen Schiebetür. Sie war nicht verriegelt. Das Blut in meinen Adern begann zu kochen. Mit vorstehender Badehose stand der merkwürdige Typ in der nächsten Sekunde direkt vor mir und setzte seine Brille ab, was ihn nicht einen Deut hübscher erscheinen ließ. Die letzte Chance, mich davonzustehlen und mich nicht zum Sklaven meines Schwanzes zu machen, war vertan, als ich aus eigenen Stücken das Schloss von innen verriegelte. Jetzt oder nie! Wie weit war ich nur gesunken? Doch bevor ich dem Schwanzmann fordernd an die Hose greifen konnte, schmiss er sich auf die Knie und zog hastig meine Badehose aus. Wie ein ausgehungertes Ferkel saugte er sich an mir fest.
Im selben Augenblick zog mir ein stechender Mundgeruch aus Nikotin und Parodontose in die Nase.
"Jetzt du. Zieh mal deine Hose aus", flüsterte ich voller Erwartung, um mich nicht länger als nötig mit ihm herumschlagen zu müssen.
So, wie es aussah, musste hier erst einmal klar gemacht werden, wer hier das Sagen hat.
Wie befohlen stellte sich der Fremde vor mich, zog seine schwarze, nasse Beinbekleidung herunter und präsentierte stolz und plötzlich überhaupt nicht mehr verschämt den geheimnisvollen Inhalt.
Wie mit einem Lasso wedelte er mit dem langen Ding herum.
 
Ich möchte nicht wissen, wie dumm ich in diesem Moment aus der Wäsche geschaut habe. So etwas hatte ich in der Tat noch nie in meinem Leben erlebt! Mit offenem Mund versuchte ich, die Situation zu begreifen.
Der Typ hatte sich tatsächlich einen Gummischwanz umgeschnallt. 40 Zentimeter Gummi, die auf eine kleine, schwarze Latex-Unterhose genietet waren.
Fassungslos über so viel eigene Blödheit und erschrocken über das Bewusstsein, dass einem die eigene Lust komplett den Verstand ausschalten kann, zog ich meine Badehose wieder hoch, um die Flucht anzutreten.
"Ich hab halt gern etwas zwischen den Beinen", lachte der Lustmolch und freute sich, einen Dummen gefunden zu haben, dem er einen Moment zuvor den Schwanz blasen durfte. Kurz sortierte ich meine Gedanken und überlegte, ob ich ihm eine runterhauen oder mich selbst im Schwimmbecken ertränken sollte. Der ganze Graus wurde in der nächsten Sekunde noch getoppt.
"Hey! Bleib doch. Ich habe aber auch einen eigenen, schönen Schwanz", schrie der Perverse angeregt, um mich am Gehen zu hindern.
Sein kleiner Fitzel, den er unter der Umschnallplatte hervorholte, gab mir den Rest. Er sah aus, wie ein abgehackter Zeigefinger, den jemand in dunkelgraue Schurwolle gebettet hatte. Ich musste weg. Duschen, die Tür hinter mir schließen und das alles so schnell wie möglich vergessen.
 
Für einen kurzen Augenblick hatte ich tatsächlich Angst, dass ein Kamera-Team vor der Kabine stand und " Willkommen in der Versteckten Kamera" rief. Dem Himmel sei Dank blieb mir dieses Sahnehäubchen aller Peinlichkeiten erspart.
 
"Schlimmer geht noch", würde mein spanischer Freund Juan in einer solchen Situation sagen, doch war er zum Glück nicht hier. Niemand würde jemals von diesem Erlebnis erfahren. Man könnte mich für unzurechnungsfähig erklären.
Der ekelhafte Geruch von ungewaschenem, smegmalastigem Schwanz, kalter Raucherlunge und unangenehmen Schweißausdünstungen ließ sich nur schwer wegwaschen.
Ich schrubbte und schrubbte meine Haut. Mir war völlig egal, dass ich eine Duftstoffallergie habe und nur in Ausnahmefällen Kosmetikprodukte benutzen sollte. Irgendwann war das teure Kenzo Duschgel komplett aufgebraucht. Hastig trocknete ich mich ab, zog mir meine Klamotten an und beschloss, die Alsterschwimmhalle in nächster Zeit besser nicht mehr aufzusuchen.
Am Ausgang hielt ich noch einmal inne. Wäre es vielleicht angebracht, das Personal über diesen verdammten Sittenstrolch zu informieren? Immerhin war er ja eine Gefahr für Kinder oder leichtgläubige Homosexuelle. Ich zog es vor, besser die Klappe zu halten. Sicherlich würden andere Menschen nicht so dumm sein und auf seinen dämlichen Trick hereinfallen. Außerdem war das Erlebte eh schon wieder so gut wie aus meiner Erinnerung gestrichen.
Vierzig-Zentimeter-Genitalien? So etwas Großes gibt es doch gar nicht! Weiß man doch, oder etwa nicht?

Ohne Rücksicht, Band 6

Juans Murmeln und das unregelmäßige Atmen direkt neben meinem Ohr, zauberten mir ein Grinsen ins Gesicht. Vorsichtig drehte ich mich um und drückte mein nacktes Hinterteil an seine leichte Erektion. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht durch gezielte, sanfte Berührungen Einfluss auf seine Träume nehmen könnte.
 
Dank meines ausgeprägten Einfühlungsvermögens, das natürlich in erster Linie eigennützig zum Einsatz kam, verwandelte sich mein Vorhaben von Hilfestellung allerdings schnell ins Gegenteil.
 
"Was machen wir denn da, Pups?", flüsterte mein Freund leicht verwirrt und schob seine blaue Schlafmaske einen Stück nach oben, sodass man im abgedunkelten Zimmer nur seine kleinen Augen erahnen konnte.
 
"Wir? Ist schon in Ordnung. Mach die Augen zu. Ich erledige den Rest allein", klärte ich die Situation und legte für einen Moment vorsichtig meine Hand auf sein Gesicht, um anschließend mit dem Kopf unter die Bettdecke zu rutschen, wo ich schließlich hingehörte.
 
Reine Routine, die nach fünfzehn Jahren Fernbeziehung nicht weniger Spaß machte als zuvor.
 
Wir waren in eigentlich allen Lebenslagen ein eingespieltes Team. Auch in den Wochen und Monaten, die wir getrennt waren. Juan "begleitete" mich durch den Alltag. Allen Freunden war längst bewusst, dass ich seine Art zu reden und auch einige seiner Rituale, fest in mein tägliches Leben übernommen hatte.
 
"Sowas nennt man dann wohl Liebe", erwähnte mein Traummann irgendwann einmal. Damit hatte er sicherlich Recht.
 
Überhaupt war es schwer, mein Glück zu fassen Dass Juan und ich uns vor so vielen Jahren in Hamburg begegnet waren. Dass gerade ich im richtigen Moment seine Wartenummer gedrückt und ihn damals jung und sexy zu mir an den Tisch gerufen hatte. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Das unverhoffte Wiedersehen im Pit Club und die Tatsache, dass er für mich sogar seinen Freund verließ. All das war Schicksal. Und mir war bewusst, dass irgendwer es wirklich gut mit meinen Leben meinte.
 
Es fiel mir nach der kurzen Entspannungsübung mit Juan und dem daraus resultierenden, angenehm nassen T-Shirt auf meinem Bauch nicht leicht, wieder einzuschlafen.
 
Zu viele Gedanken spukten durch meinen Kopf. Die Überraschungsreise nach London und der geplante Musicalbesuch als der perfekte Rahmen für den großen Moment. Das Grundgerüst stand, aber wie und wo genau sollte es passieren?
 
Noch zwei Tage, also genauer gesagt nur noch neununddreißig Stunden und ich bin verlobt - also wenn alles glatt läuft. Aber das tut es in meinem Leben ja letztendlich immer. Darauf war Verlass.

Kapitel 1

Der Regen prasselte am übernächsten Morgen bedrohlich an das Schlafzimmerfenster. Hatte ich mich getäuscht oder war in der Ferne wirklich ein leichtes Grummeln zu hören? Irgendwie gemütlich -- wenn man nichts geplant und den ganzen Tag zu zweit im Bett verbringen wollte.
 
Die Meteorologen versprachen doch gestern noch Frühnebel und anschließend Sonnenschein satt. Genauso, wie man es von einem Julitag auch erwarten sollte. Wie konnte das nur angehen?
 
Hatte ich die Wetteranzeige meiner Google-Startseite in meiner Vorfreude vielleicht schon versehentlich auf London umgeswitcht? Eine solch grobe Fahrlässigkeit wäre dumm, aber auch nicht gerade untypisch für mich.
 
Immerhin checkte Juan, den ich mit dieser bedeutungsschweren Reise überraschen wollte, seit dem Wochenende mehrmals täglich seine Mails an meinem Computer und würde sicherlich Verdacht schöpfen, wenn da die Temperatur aus der britischen Hauptstadt aufblinken würde.
 
"Scheiße Wetter Flink! Mach mir nochmal Popo-Massage vor aufzustehen", grinste mich der Spanier erwartungsvoll an und warf die Decke gekonnt beiseite, sodass man seinem durchtrainierten Körper kaum widerstehen konnte. Es sei denn, man steht unter Zeitdruck und in freudiger Erwartung, genau diesen Kerl ganz offiziell und dauerhaft an sich zu binden, was nur planmäßig über die Bühne ging, wenn wir pünktlich um 12 Uhr am Check in des Hamburger Flughafen stehen.
 
Die spanische Gemütlichkeit war mir nicht neu -- dennoch eine Herausforderung, der man sich täglich aufs Neue stellen musste. Ob man nun wollte oder nicht!
 
"Hoch den Arsch und raus aus dem Bett", versuchte ich es gleich autoritär und erntete dafür einen skeptischen Blick.
 
"Hoch bin ich schon, du Blöd", konterte Juan und drehte sich auf den Rücken, um zu untermauern, was genau er damit meinte.
 
Der Situation konnte man nur durch direkte Flucht ins Badezimmer entkommen. Ein kalte Dusche und vor allem der straffe Zeitplan rundeten die Motivation ab. Juan sollte sich mal ruhig für die kommende Nacht aufsparen. Als Sahnehäubchen sozusagen.
 
"Nun aber raus aus dem Bett, du Schlafsack. Wir haben nicht so viel Zeit, wie sonst. Ich hole auch keine Brötchen, denn gefrühstückt wird nachher am Flughafen.", ließ ich die Bombe platzen.
 
"Woooos? Keine Brötchen?", reagierte Juan etwas ernüchternd, wenn man bedenkt, was eigentlich für eine Botschaft dahinterstand.
 
Erst jetzt bemerkte ich, die gelben Ohrstöpsel, die noch links und rechts aus seinen Gehörgängen herausguckten.
 
"Wir fliegen in vier Stunden nach London! Überraschung! Und es muss noch gepackt werden!", klärte ich das Missverständnis auf, während mein Freund verdutzt aus der Wäsche guckte.
 
"Yes mate! Du bist sowas von verruckt", sprang er splitternackt aus dem Bett, küsste mich im Vorbeigehen und hüpfte aufgeregt aus dem Zimmer.
 
"Verruckt, verruckt, verruckt du", hörte ich aus immer weiterer Entfernung. Wobei er gekonnt das R in Gedenken an Marika Rökk rollte.
 
Vielleicht sollte man es immer so mit ihm machen. Juan benötige zum Kofferpacken für gewöhnlich mindestens zwei bis drei Tage, in denen er die Dinge von links nach rechts und wieder zurücklegte. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er sonst immer auf das Mindestgewicht achten musste, was im Regelfall durch meine liebevollen Geschenke und massenhaften Schnäppchenkäufe bei Kik und Rossmann sowieso überschritten war. Zwanzig Kilo für drei Tage London pro Person waren daher die leichteste Übung.
 
Keine sechs Stunden später rollten wir unsere Koffer aus dem alten Fahrstuhl der Underground Station Covent Garden.
 
Es ist immer wieder wie das Eintauchen in eine komplett andere Welt, wenn man in London ankommt. Mit einem Mal ist man Teil der verrücktesten Videoclips von MTV, denkt alle fünf Meter darüber nach, ob man nicht einfach stehenbleiben und lustige Fotos machen soll oder einfach dem nächsten Typen im sexy Anzug an den Po packt.
 
Überhaupt ist das Sitzen in der U-Bahn in London um einiges aufregender, als in Hamburg. Ist der Waggon nicht überfüllt, sitzt man sich genauso gegenüber, dass man mindestens fünf Leuten direkt zwischen die Beine gucken kann. Ist es überfüllt, schätzt man sich gleich noch glücklicher, wenn man nicht stehen muss, denn so baumeln die Früchte des Verlangens nur wenige Zentimeter vor den Augen und man kann sich ungeniert seiner Fantasie hingeben. Bestenfalls ist es so voll, dass einem die Beulen fast ins Gesicht gepresst werden.
 
Was ich eigentlich sagen will: Es ist auch schön, von Zeit zu Zeit allein nach London zu fahren, also ohne Juan. Doch hätte ich die Wahl, ich würde seine Gesellschaft trotz dieser überwältigenden Inspiration jederzeit vorziehen. Wie er so vor mir seinen Koffer zieht und mit begeisterten Augen die alten Gebäude und kleinen Püppchen an einem Straßenstand angrinst, macht mir klar, wie sehr er mir eigentlich fehlt, wenn wir nicht zusammen sind. In seiner Gegenwart fühle ich mich vollkommen. Alles andere ist sozusagen eigentlich nur ein Kompromiss mit Benefits.